In der Krisenzeit der Römischen Bürgerkriege verfasste der ehemalige Konsul Marcus Tullius Cicero zwischen 54 und 51 v. Chr. sein berühmte Werk “De re publica” . Aufgrund der chaotischen und diktatorischen Zustände in Rom setzte er sich mit der Frage nach der besten Staatsform und dem besten Staatslenker auseinander. Dabei führt er unter anderem einen Dialog mit Scipio Aemilianus, der vor allem für seine erfolgreiche Zerstörung Karthagos in den Punischen Kriegen bekannt geworden war. Folgendermaßen argumentierte Cicero in seiner staatsphilosophischen Schrift (1, 39ff):
1, 39. Das Gemeinwesen [res publica] ist also die Sache des Volkes [res populi], Volk aber ist nicht jede Vereinigung von Menschen, die auf jede nur erdenkbare Weise sich wie eine Herde zusammengeschart hat, sondern der Zusammenhalt einer größeren Menschenzahl, der auf der Grundlage einer Rechtsvereinbarung [iuris consensu] und einer Interessengemeinschaft [utilitatis communione] erfolgt ist. Der erste Anlaß, einen solchen Zusammenschluß zu vollziehen, ist weniger das Gefühl der Schwäche als vielmehr eine Art naturbedingten Triebes, gleichsam ein Herdentrieb. Denn bei diesem Menschengeschlecht handelt es sich nicht um Einzelindividuen und Einzelgänger, sondern es ist von Haus aus so veranlagt, daß der Mensch, mag er in noch so reichem, allseitigen Überfluß leben, in seiner Vereinzelung nicht bestehen kann, sondern so geschaffen ist, daß nicht einmal bei einem Überfluß an allen Dingen er die Mithilfe und Anteilnahme seiner Umwelt entbehren könnte. […]
1, 41. Diese Vereinigungen also, die aus dem von mir dargelegten Grunde erfolgt sind, haben zuerst dazu geführt, daß sich die Menschen an einem bestimmten Orte niederließen, um sich feste Wohnsitze zu begründen. Dann haben sie ihn unter Ausnützung der natürlichen Lage künstlich ringsum abgeschirmt und dann eine solche Vereinigung von einzelnen Baulichkeiten oppidum oder urbs genannt. Dabei wurden verschiedene Stellen der Stadt mit Heiligtümern und freien Plätzen für die Allgemeinheit ausgestattet. Jedes Volk also, das, wie dargelegt, der Zusammenschluß einer größeren Menschenzahl ist, jede Bürgergemeinde, die das organisierte Volk darstellt, jedes Gemeinwesen, das, wie gesagt, eine Sache des Volkes ist, muß, um Bestand zu haben, einer bestimmten planvollen Leitung unterstellt sein. […]
Die verschiedenen Verfassungsformen:
1, 42. Wenn daher die gesamte oberste Staatsführung in der Hand eines einzigen Mannes liegt, nennen wir diesen einen König und die Verfassung eines solchen Gemeinwesens Königtum. Liegt sie aber in der Hand eines Kreises von Auserwählten, dann, sagt man, wird diese Bürgergemeinde auf Grund der ungebundenen Entscheidung der Optimaten regiert. Ein Volksstaat – so nennt man ihn ja – liegt vor, wenn in ihm alle Gewalt von dem Volke ausgeht. Jede beliebige dieser drei Verfassungsarten ist unter der Voraussetzung, daß jenes feste Band vorhanden ist, das zuerst die Menschen zu einer staatlichen Gemeinschaft sich zusammenschließen ließ, zwar nicht als eine vollkommene und auch nicht nach meiner Meinung als die ethisch beste, aber doch als eine erträgliche anzusprechen, wobei jedoch die eine vor der anderen den Vorzug verdienen könnte. Denn mag auch ein gerechter und weiser König oder auserlesene, zur Führung berufene Bürger oder das Gesamtvolk selbst den Staat lenken – wenngleich diese Staatsform am wenigsten zu billigen wäre -, so kann der Staat, wenn keine Ungerechtigkeiten oder leidenschaftlichen Begierden sich einschalten, sich auf eine ziemlich feste Grundlage stützen.
1, 43. Beim Königtum haben jedoch alle anderen zuwenig Anteil an dem gemeinsamen Recht und an der staatlichen Planung, und bei der Optimatenherrschaft kann die Masse des Volkes kaum teilhaben an der Freiheit, da sie von jeder gemeinsamen Beratung ausgeschlossen ist und ihr keine Machtbefugnis zusteht; und wenn die gesamte politische Handlungsbefugnis in der Hand des Volkes liegt, so ist gerade die Gleichheit eine Ungleichheit, da sie keine Abstufungen nach dem wahren Wert der einzelnen Persönlichkeiten zuläßt. […]
Frage nach der besten Verfassung – die gemischte Verfassung:
1, 54. Laelius: Was meinst du nun, Scipio? Welche von diesen drei Staatsformen billigst du am meisten? Scipio: Die Frage, “welche von den dreien am meisten”, ist von dir richtig gestellt. Keine von ihnen billige ich ja für sich, losgetrennt von den anderen. Über jede einzelne stelle ich die, die aus allen drei Formen verschmolzen ist. Wenn man aber eine einzelne, einfache gutheißen sollte, so möchte ich dies bei der monarchischen besonders tun und sie an erste Stelle setzten. […] Dabei begegnet uns der Name König gleichsam mit einem patriarchalischen Klang, als eines Mannes, der für seine Untertanen wie für seine eigenen Kinder sorgt und mehr auf deren Wohlfahrt bedacht ist, als seinen persönlichen Nutzen im Auge hat, wobei die Untertanen offen bekennen, daß die, die politischer Klugheit entbehren, in der verantwortungsvollen Umsicht des einen, und zwar besten und höchsten Mannes ihre feste Stütze haben. […]
1, 69. […] Aber vor die monarchische selbst wird noch die zu stellen sein, die eine gleichmäßige Mischung aus den drei besten Staatsformen darstellt. Drei Voraussetzungen sind dabei zu erfüllen; erstens, es muß in dem Staatswesen eine gewisse monarchische Spitze vorhanden sein, ferner, eine zweite Kraft muß der Einfluß darstellen, der der politischen Führungsschicht zugemessen und zugewiesen ist, drittens, gewisse Aufgabengebiete müssen dem Urteil und der Willensäußerung der großen Masse des Volkes vorbehalten bleiben. Eine solche Verfassung gewährleistet einmal ein hohes Maß von Ausgeglichenheit, auf das freie Menschen auf die Dauer kaum verzichten können, zum zweiten eine Sicherheit, weil jene drei Grundformen leicht in die gegenteiligen Mißformen umschlagen können, so daß aus dem König ein Gewaltherrscher, aus den Optimaten ein Parteiklüngel, aus der geordneten Demokratie ein durcheinandergewürfelter Haufe entsteht, und sodann weil selbst diese Formen oft wieder mit neuen Formen wechseln. Dies kommt in einer verbundenen und maßvoll gemischten Verfassung in der Regel nur dann vor, wenn die leitenden Männer schwere Charakterfehler aufweisen. […]
1, 70. Denn dahin geht meine grundsätzliche Einstellung, dahin meine Überzeugung, dahin mein fester Glaube: keine von sämtlichen Staatsformen ist hinsichtlich ihres inneren Aufbaus, hinsichtlich der Verteilung der Gewalten und der geregelten Ordnung mit der zu vergleichen, die unsere Väter schon von den Vorfahren übernommen und uns hinterlassen haben. […]
2,1f. […] Cato also pflegte folgendes zu sagen: “Darin zeichnet sich die Verfassung unseres Staates vor den übrigen aus, daß in diesem in der Regel Einzelpersönlichkeiten aufgetreten sind, von denen jede einzelne ihren Staat mit ihren Gesetzen und Einrichtungen aufgebaut hat. So war bei den Kretern Minos, bei den Lakedaimoniern Lykurgos, bei den Athenern, deren Verfassung oftmals verändert wurde, zuerst Theseus, dann Drakon, dann Solon, dann Kleisthenes, dann kamen viele andere. […] Unser Staat dagegen hat sich nicht auf das Talent eines einzelnen, sondern vieler Persönlichkeiten gegründet, auch nicht auf ein einziges Menschenleben, sondern auf eine ganze Reihe von Jahrhunderten und Generationen. Denn […] noch nie ist ein Genie aufgetreten, das so umfassend gewesen wäre, daß ihm überhaupt nichts entging, und selbst wenn man alle bedeutenden Geister in einer Person zusammenfassen würde, könnte sie in dieser zeitlichen Zusammenfassung nicht eine so weitgehende Voraussicht walten lassen, daß sie unter Verzicht auf praktische Erfahrung und auf die Lehren der Vergangenheit alles umfassen würde.” 3. Daher will ich […] auf den Ursprung des römischen Volkes zurückgreifen. […] Leichter aber werde ich mein Ziel erreichen, wenn ich Euch unseren Staat in seinen vier Etappen vorführe: in seinem Entstehen, in seinem Wachstum, in seiner Reife, endlich in seinem festen und starken inneren und äußeren Gefüge, als wenn ich mir, wie Sokrates bei Platon, aus mit selbst irgendein Idealbild schaffe.
Die Frage nach der Gerechtigkeit:
2, 70. Scipio: Ich […] erkläre feierlich: Bedeutungslos ist, was, wie wir glauben, bisher über das Gemeinwesen gesagt worden ist – es liegt auch keine Grundlage vor, auf der wir in unserem Gespräch weiterkommen könnten -, wenn nicht sicher erwiesen ist, daß jene These, ohne Unrecht könne ein Gemeinwesen nicht gelenkt werden, nicht nur falsch, sondern vielmehr die andere als unwiderleglich wahr bestätigt ist, daß ein Gemeinwesen ohne höchste Gerechtigkeit überhaupt nicht regiert werden kann. […]
Auszüge zitiert nach: Cicero, De re publica 1, 39 ff, übersetzt von W. Sontheimer, in: W. Lautemann, M. Schlenke (Hg.), Geschichte in Quellen, Altertum, München 1975, S. 519 ff.