Im 4. Jahrhundert v. Chr. publizierte der antike Philosoph Aristoteles mit “Politik” eine einflussreiche staatsphilosophische Schrift, die sich mit den gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen in einem Staat und verschiedenen Verfassungen beschäftigte. Im folgenden Auszug erläutert Aristoteles seine Ansicht eines “besten Staates”, der auf einer Mischverfassung zwischen Oligarchie und Demokratie beruhe. Demnach sei die politische Beteiligung des Mittelstandes eine notwendige Voraussetzung, damit die reichen und armen Gesellschaftsklassen einander vertragen:
Welches ist nun die beste Verfassung, welches das beste Leben für die meisten Staaten und die meisten Menschen? Dabei wollen wir nicht den Maßstab einer Tugend anlegen, von der die meisten Menschen keine Ahnung haben, nicht den Maßstab einer Bildung, die ohne Naturanlagen und Glücksgüter nicht möglich ist, auch nicht den Maßstab einer Verfassung, die unserem Ideal entspricht. Vielmehr wollen wir dabei an ein Leben denken, wie es die Mehrzahl der Menschen führen kann, und an eine Verfassung, wie sie für die meisten Menschen möglich ist. Die Antwort auf alles dieses wird aus denselben Grundwahrheiten gewonnen: Wenn es in der Ethik heißt, das glückliche Leben sei ein Leben, in dem man seine Tugend und Tüchtigkeit ungehemmt entfalten kann, jede Tugend aber sei die rechte Mitte zwischen zwei Extremen, – so muß auch das Leben eines solchen Mittelmaßes das beste sein, und zwar eines Mittelmaßes, das jeder erreichen kann. Dieselben Bestimmungen legen wir zugrunde, wenn wir entscheiden wollen, ob ein Staat und eine Verfassung gut oder schlecht sind; denn die Verfassung ist gewissermaßen das Leben des Staates.
In allen Staaten findet man drei Klassen von Bürgern: sehr reiche, sehr arme und drittens solche, die zwischen beiden in der Mitte stehen. Da nun nach allgemeiner Ansicht das rechte Maß und die Mitte das Beste ist, so ist auch unter den Glücksgütern offenbar der Besitz, der die Mitte hält, der allerbeste; denn ein solcher Besitz macht es uns am leichtesten, der vernünftigen Einsicht zu gehorchen. Dagegen ist es schwer, daß der übermäßig Schöne, Starke, Vornehme, Reiche und andererseits der übermäßig Arme, Schwache, Niedrige der vernünftigen Einsicht folgt; denn die ersteren verfallen in Übermut und werden Verbrecher im Großen, die letzteren Bösewichter und Verbrecher im Kleinen. Alle Verbrechen aber entstehen entweder aus Übermut oder aus Bosheit. Außerdem haben diejenigen, die in einer Überfülle der Glücksgüter, der Stärke, des Reichtums, der Verbindungen leben, weder Lust noch Sinn, sich der Obrigkeit unterzuordnen. Das zeigt sich gleich von Hause aus in ihren Kinderjahren; denn infolge ihrer Hoffahrt können sie sich auch in der Schule nicht daran gewöhnen zu gehorchen. – Die anderen, die jene Glücksgüter übermäßig entbehren, sind allzu unterwürfig. Deshalb sind die letzteren unfähig zu gebieten und können nur wie Sklaven gehorchen. Die ersteren sind unfähig zu gehorchen und können nur wie Despoten gebieten. Daraus entsteht nicht ein Staat von freien Männern, sondern von Sklaven und Despoten, von denen die einen Neid, die anderen Verachtung im Herzen tragen. Solche Gefühle sind am weitesten entfernt von Freundschaft und staatlicher Gemeinschaft, die ja eine Art von Freundschaft ist; denn mit den Feinden will man nicht einmal die Landstraßen teilen.
In den Städten (Staaten) ist die Existenz des Mittelstandes am besten gesichert. Weder trachten sie wie die Armen nach fremdem Gut noch andere nach ihrem Gut. Und weil sie weder andere nachstellen und andere ihnen, verleben sie ihre Tage ohne Gefahr. Deshalb hat Phokylides recht mit seinem Wunsch: “Ich lobe mit den Mittelstand; Zu ihm will ich gehören.” Offenbar ist also die bürgerliche Gemeinschaft die beste, die der Mittelstand bildet, und nur solche Staaten können eine gute Regierung haben, in denen der Mittelstand zahlreich ist, wenn möglich, stärker als die beiden anderen Klassen zusammen, wenigstens aber stärker als eine derselben. So gibt er den Ausschlag und verhindert das Übergewicht einer der beiden anderen Klassen. Deshalb ist es das größte Glück, wenn die Bürger eines Staates ein mittleres und ausreichendes Vermögen besitzen. Wo es nur sehr Reiche und Besitzlose gibt, da entsteht entweder die extreme Volksherrschaft oder eine maßlose Oligarchie oder – als Folge der einen oder anderen Ausartung – eine Tyrannis; denn sowohl aus einer ausgesprochenen Volksherrschaft als auch Oligarchie entsteht eine Tyrannis. Wo aber die Bürger dem Mittelstande angehören und einander nahestehen, entsteht sie viel weniger.
Es ist klar, daß der auf dem Mittelstand beruhende Staat der beste ist; denn er allein ist frei von inneren Unruhen, weil da, wo der Mittelstand zahlreich ist, sich die Bürger am wenigsten in zwei Parteien spalten. Aus demselben Grunde kennen die Großstädte, weil der Mittelstand zahlreich ist, weniger innere Unruhen als die kleinen Städte. In den letzteren kommt es leicht vor, daß alle Bürger in zwei Klassen zerfallen, daß es fast nur Reiche und Arme gibt und ein Mittelstand fehlt. Der Mittelstand sichert aber auch mehr die Demokratien, macht sie dauerhafter als die Oligarchien; denn er ist in den Demokratien zahlreicher und hat in ihm mehr Anteil an den Ehrenämtern als in den Oligarchien. Man muß es für bedeutungsvoll halten, daß die besten Gesetzgeber zum Mittelstand gehören: z. B. Solon – das geht aus seiner Dichtung hervor – und Lykurg – er war nicht König – und Charondas und fast alle anderen. Deshalb haben auch die meisten Staaten eine demokratische oder oligarchische Verfassung; denn weil in ihnen der Mittelstand oft gering ist, so überschreitet eine der beiden anderen Klassen, die gerade die Oberhand hat – entweder die Reichen oder die Armen -, die Mittellinie und führt eine selbstsüchtige Regierung, so daß entweder eine Volksherrschaft oder eine Oligarchie entsteht. Hinzu kommt, daß infolge der Streitigkeiten und Kämpfe zwischen Reich und Arm diejenige Partei, der es gelingt, den Gegner niederzuwerfen, keine Regierung einsetzt, die auf Gemeinsamkeit und Gleichheit beruht, sondern ihr Übergewicht im Staate als Siegespreis betrachtet und entweder eine Volksherrschaft oder eine Oligarchie einrichtet. Ebenso richteten auch die beiden Staaten, die die Hegemonie in Griechenland hatten (Athen und Sparta) mit Rücksicht auf ihre eigene Verfassung entweder Demokratien oder Oligarchien in den Städten ein, wobei sie nur ihren eigenen Vorteil, nicht den dieser Städte im Auge hatten.
Welches nun der beste Staat ist und warum er es ist, das ist aus dem Gesagten klar. Nun muß aber in jedem Staate die Zahl derer, die den Bestand der Verfassung wünschen, größer sein als die, die ihn nicht wünschen. Jede Bürgerschaft läßt sich nach der Qualität und Quantität teilen. Bei Qualität denke ich an Freiheit, Reichtum, Bildung, edle Geburt, – bei Quantität an das Überwiegen der Menge. Es kann aber die Qualität bei dem einen Teil der Bürgerschaft vorhanden sein, die Quantität bei den anderen. Es kann z. B. die Zahl der Niedrigen höher sein als die der Edlen, die der Armen größer sein als die der Reichen, jedoch nicht in dem Maße, daß sie so sehr durch ihre Quantität überlegen sind wie sie durch ihre Qualität zurückstehen. Wo die Menge der Armen in dem angegebenen Verhältnis das Übergewicht hat, da entsteht naturgemäß eine Demokratie, und zwar diese oder jene Art von Demokratie, je nachdem diese oder jene Volksklasse das Übergewicht hat. Überwiegt z. B. die Menge der Ackerbauern, so entsteht die beste Art der Demokratie; überwiegt dagegen die Menge der Handwerker und Tagelöhner, so gibt es die schlechteste Art, und dementsprechend auch die Mittelarten der Demokratie. Wo aber die Zahl der Reichen und Vornehmen durch ihre Qualität ein größeres Übergewicht hat, als sie durch ihre Quantität zurücksteht, da entsteht naturgemäß eine Oligarchie, un zwar in derselben Weise die einer oder die andere Art, je nachdem die eine oder andere Art von Oligarchen überwiegt. Immer aber muß der Gesetzgeber bei der Verfassung den Mittelstand berücksichtigen. Macht er die Gesetze oligarchisch, so muß er die Leute mit mittlerem Vermögen im Auge haben; macht er sie demokratisch, so muß er diese für die Gesetze gewinnen.
Wo aber der Mittelstand an Zahl entweder die beiden anderen Klassen oder auch nur eine von ihren übertrifft, da kann die Verfassung von Dauer sein. Es ist ja unter keinen Umständen zu befürchten, daß sich die Reichen und die Armen gegen den Mittelstand verbinden; denn niemals werden die einen von ihnen Sklaven der anderen sein wollen. Wenn sie aber nach einer gemeinsamen Verfassung streben, so werden sie keine andere finden als die des Mittelstandes. Auch werden sie sich aus gegenseitigem Mißtrauen nicht dazu verstehen, abwechselnd die Herrschaft zu haben. Überall hat der Schiedsmann das größte Vertrauen; Schiedsmann aber ist, wer zwischen den Streitenden steht. Je mehr die Verfassung gemischt ist, um so dauerhafter ist sie.
Zitiert nach: Aristoteles, Politik, hrsg. v. Dr. Paul Gohlke und Ferdinand Schöningh, Paderborn 1959, übersetzt von Dr. Heinrich Wolfutarch, in: H. Brauer: Die Entwicklung der Demokratie in Athen, Geschichtliche Quellen, Paderborn 1983, S. 16 ff.