Rosa Luxemburg: Sozialreform oder Revolution?

Ein Jahr nach Eduard Bernsteins Zuschrift an den Parteitag der SPD antwortete die Sozialistin Rosa Luxemburg mit einer Auseinandersetzung zwischen Sozialreform und Revolution. Die Arbeiterbewegung hatte sich zuvor in gemäßigte Sozialdemokraten und revolutionäre Sozialisten gespalten. Rosa Luxemburg sprach sich in ihrem Schreiben für die radikale internationale Revolution der Arbeiterklasse aus:

Kapitel 5. Praktische Konsequenzen und allgemeiner Charakter des Revisionismus. Wir haben im ersten Kapitel darzutun gesucht, dass die Bernsteinsche Theorie das sozialistische Programm vom materiellen Boden aufhebt und auf eine idealistische Basis versetzt. Dies bezieht sich auf die theoretische Begründung. Wie sieht nun aber die Theorie – in die Praxis übersetzt aus? Zunächst und formell unterscheidet sie sich gar nicht von der bisher üblichen Praxis des sozialdemokratischen Kampfes. Gewerkschaften, der Kampf um die Sozialreform und um die Demokratisierung der politischen Einrichtungen, das ist das nämliche, was auch sonst den formellen Inhalt der sozialdemokratischen Parteitätigkeit ausmacht. Der Unterschied liegt also nicht in dem Was, wohl aber in dem Wie. Wie die Dinge jetzt liegen, werden der gewerkschaftliche und der parlamentarische Kampf als Mittel aufgefaßt, das Proletariat allmählich zur Besitzergreifung der politischen Gewalt zu führen und zu erziehen. Nach der revisionistischen Auffassung sollen sie, angesichts der Unmöglichkeit und Zwecklosigkeit dieser Besitzergreifung, bloß im Hinblick auf unmittelbare Resultate, d. h. die Hebung der materiellen Lage der Arbeiter, und auf die stufenweise Einschränkung der kapitalistischen Ausbeutung und die Erweiterung der gesellschaftlichen Kontrolle geführt werden. Wenn wir von dem Zwecke der unmittelbaren Hebung der Lage der Arbeiter absehen, da er beiden Auffassungen, der bisher in der Partei üblichen, wie der revisionistischen, gemeinsam ist, so liegt der ganze Unterschied kurz gefaßt darin: nach der landläufigen Auffassung besteht die sozialistische Bedeutung des gewerkschaftlichen und politischen Kampfes darin, daß er das Proletariat, d. h. den subjektiven Faktor der sozialistischen Umwälzung zu deren Durchführung vorbereitet. Nach Bernstein besteht sie darin, daß der gewerkschaftliche und politische Kampf die kapitalistische Ausbeutung selbst stufenweise einschränken, der kapitalistischen Gesellschaft immer mehr ihren kapitalistischen Charakter nehmen und den sozialistischen aufprägen, mit einem Worte, die sozialistische Umwälzung in objektivem Sinne herbeiführen soll. Sieht man die Sache näher an, so sind beide Auffassungen sogar gerade entgegengesetzt. In der parteiüblichen Auffassung gelangt das Proletariat durch den gewerkschaftlichen und politischen Kampf zu der Überzeugung von der Unmöglichkeit, seine Lage von Grund aus durch diesen Kampf umzugestalten, und von der Unvermeidlichkeit einer endgültigen Besitzergreifung der politischen Machtmittel. In der Bernsteinschen Auffassung geht man von der Unmöglichkeit der politischen Machtergreifung als Voraussetzung aus, um durch bloßen gewerkschaftlichen und politischen Kampf die sozialistische Ordnung einzuführen.

Der sozialistische Charakter des gewerkschaftlichen und parlamentarischen Kampfes liegt also bei der Bernsteinschen Auffassung in dem Glauben an dessen stufenweise sozialisierende Einwirkung auf die kapitalistische Wirtschaft. Eine solche Einwirkung ist aber tatsächlich wie wir darzutun suchten – bloße Einbildung. Die kapitalistischen Eigentums- und Staatseinrichtungen entwickeln sich nach einer entgegengesetzten Richtung. Damit aber verliert der praktische Tageskampf der Sozialdemokratie in letzter Linie überhaupt jede Beziehung zum Sozialismus. Die große sozialistische Bedeutung des gewerkschaftlichen und politischen Kampfes besteht darin, daß sie die Erkenntnis, das Bewußtsein des Proletariats sozialisieren, es als Klasse organisieren. Indem man sie als Mittel der unmittelbaren Sozialisierung der kapitalistischen Wirtschaft auffasst, versagen sie nicht nur diese ihnen angedichtete Wirkung, sondern büßen zugleich auch die andere Bedeutung ein: sie hören auf, Erziehungsmittel der Arbeiterklasse zur proletarischen Machtergreifung zu sein. […]

Auszüge zitiert nach: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1899/sozrefrev/kap1-5.htm.

Fabio Schwabe

Der Autor

Dieser Beitrag wurde am 06.03.2016 verfasst von Fabio Schwabe, Mettmann. Die aktuelle Version stammt vom 06.03.2016. Fabio Schwabe ist Gymnasiallehrer der Fachrichtung Geschichte und Gründer von Geschichte kompakt

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