Ferdinand Lassalle: Das Arbeiterprogramm 1862

Aufgrund der Industrialisierung im 19. Jahrhundert hatte sich die soziale Lage der Arbeiterschaft dramatisch verschlechtert. Daher entstand im deutschen Sprachraum eine Arbeiterbewegung, die sich für bessere Lebensbedingungen einsetzte, um die Soziale Frage zu lösen. Unter den bekanntesten Wortführern zählte unter anderem der Sozialist Ferdinand Lassalle, der zum ersten Präsident eines deutschen Arbeitervereins ernannt wurde. Am 12. April 1862 veröffentlichte er das “Arbeiterprogramm” , in dem er folgende Punkte ansprach:

Insofern aber und insoweit die unteren Klassen der Gesellschaft die Verbesserung ihrer Lage als Klasse, die Verbesserung ihres Klassenloses erstreben, insofern und insoweit fällt dieses persönliche Interesse, statt sich der geschichtlichen Bewegung entgegenzustellen und dadurch zu jener Unsittlichkeit verdammt zu werden, seiner Richtung nach vielmehr durchaus zusammen mit der Entwicklung des gesamten Volkes, mit dem Siege der Idee, mit den Fortschritten der Kultur, mit dem Lebensprinzip der Geschichte selbst, welche nichts anderes als die Entwicklung der Freiheit ist.

Oder, wie wir schon oben sahen, Ihre Sache ist die Sache der gesamten Menschheit. Sie sind somit in der glücklichen Lage, meine Herren, dass Sie, statt abgestorben sein zu können für die Idee, vielmehr durch Ihr persönliches Interesse selbst zur höchsten Empfänglichkeit für dieselbe bestimmt sind. Sie sind in der glücklichen Lage, dass dasjenige, was Ihr wahres persönliches Interesse bildet, zusammenfällt mit dem zuckenden Pulsschlag der Geschichte, mit dem treibenden Lebensprinzip der sittlichen Entwicklung. Sie können daher sich der geschichtlichen Entwicklung mit persönlicher Leidenschaft hingeben und gewiß sein, daß Sie um so sittlicher dastehen, je glühender und verzehrender diese Leidenschaft in ihrem hier entwickelten reinen Sinne ist.

Dies sind die Gründe, meine Herren, weshalb die Herrschaft des vierten Standes über den Staat eine Blüte der Sittlichkeit, der Kultur und Wissenschaft herbeiführen muss, wie sie in der Geschichte noch nicht dagewesen. Hierzu führt aber auch noch ein anderer Grund, der selbst wieder auf das innigste mit allen von uns angestellten Betrachtungen zusammenhängt und ihren Schlussstein bildet. Der vierte Stand hat nicht nur ein anderes formelles, politisches Prinzip als die Bourgeoisie, nämlich das allgemeine direkte Wahlrecht an Stelle des Zensus der Bourgeoisie, er hat ferner nicht nur durch seine Lebensstellung ein anderes Verhältnis zu den sittlichen Potenzen als die höheren Stände, sondern er hat auch — zum Teil infolge hiervon — eine ganz andere, ganz verschiedene Auffassung von dem sittlichen Zweck des Staates als die Bourgeoisie.

Die sittliche Idee der Bourgeoisie ist diese, dass ausschließend nichts anderes als die ungehinderte Selbstbetätigung seiner Kräfte jedem einzelnen zu garantieren sei. Wären wir alle gleich stark, gleich gescheit, gleich gebildet und gleich reich, so würde diese Idee als eine ausreichende und sittliche angesehen werden können. Da wir dies aber nicht sind und nicht sein können, so ist dieser Gedanke nicht ausreichend und führt deshalb in seinen Konsequenzen notwendig zu einer tiefen Unsittlichkeit. Denn er führt dazu, dass der Stärkere, Gescheitere, Reichere den Schwächeren ausbeutet und in seine Tasche steckt. Die sittliche Idee des Arbeiterstandes dagegen ist die, dass die ungehinderte und freie Betätigung der individuellen Kräfte durch das Individuum noch nicht ausreiche, sondern dass zu ihr in einem sittlich geordneten Gemeinwesen noch hinzutreten müsse: die Solidarität der Interessen, die Gemeinsamkeit und die Gegenseitigkeit in der Entwicklung. Entsprechend diesem Unterschiede, fasst die Bourgeoisie den sittlichen Staatszweck so auf: er bestehe ausschließend und allein darin, die persönliche Freiheit des einzelnen und sein Eigentum zu schützen.

Dies ist eine Nachtwächteridee, meine Herren, eine Nachtwächteridee deshalb, weil sie sich den Staat selbst nur unter dem Bilde eines Nachtwächters denken kann, dessen ganze Funktion darin besteht, Raub und Einbruch zu verhüten. Leider ist diese Nachtwächteridee nicht nur bei den eigentlichen Liberalen zu Hause, sondern selbst bei vielen angeblichen Demokraten, infolge mangelnder Gedankenbildung, oft genug anzutreffen. Wollte die Bourgeoisie konsequent ihr letztes Wort aussprechen, so müsste sie gestehen, dass nach diesen ihren Gedanken, wenn es keine Räuber und Diebe gebe, der Staat überhaupt ganz überflüssig sei. Ganz anders, meine Herren, fasst der vierte Stand den Staatszweck auf, und zwar fasst er ihn so auf, wie er in Wahrheit beschaffen ist.Die Geschichte, meine Herren, ist ein Kampf mit der Natur; mit dem Elende, der Unwissenheit, der Armut, der Machtlosigkeit und somit der Unfreiheit aller Art, in der wir uns befanden, als das Menschengeschlecht im Anfang der Geschichte auftrat. Die fortschreitende Besiegung dieser Machtlosigkeit — das ist die Entwicklung der Freiheit, welche die Geschichte darstellt. […]

Auszüge zitiert nach: Ferdinand Lassalle, Reden und Schriften, München (dtv) 1970, S. 54-56.

Fabio Schwabe

Der Autor

Dieser Beitrag wurde am 06.03.2016 verfasst von Fabio Schwabe, Mettmann. Die aktuelle Version stammt vom 06.03.2016. Fabio Schwabe ist Gymnasiallehrer der Fachrichtung Geschichte und Gründer von Geschichte kompakt

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