Gustav Schmoller: Über die soziale Frage

Die fortschreitende Industrialisierung im 19. Jahrhundert hatte die Lebensbedingungen der Arbeiterschaft erheblich verschlechtert. Diesbezüglich entstanden zahlreiche Lösungsansätze, die Antworten auf die soziale Frage zu finden versuchten. Ein Lösungsansatz stammte vom Nationalökonom und Sozialpolitiker Gustav Schmoller, der am 6./7. Oktober 1872 auf der Eisenacher Versammlung zur Besprechung der sozialen Frage folgende Rede hielt:

Meine Herren! Erlauben Sie, daß ich, ehe wir in die Tages-Ordnung und in die Debatte eintreten, im Namen der Herren, welche Sie zu der heutigen Versammlung eingeladen haben und spezieller noch im Namen derer, welche das Vorbereitungs-Comité gebildet haben, Sie Alle herzlich willkommen heiße, Ihnen unsern Dank für Ihr Erscheinen ausspreche und mit wenigen Worten die Gedanken kennzeichne, mit denen wir diese Versammlung berufen haben. Wir haben uns zu rechtfertigen, daß wir – meist Gelehrte, die sonst dem öffentlichen Leben ferne stehen – es gewagt haben, eine solch stattliche, ehrenwerte Versammlung zu berufen, in der Hoffnung, hier eine Basis zu finden für die Reform unserer sozialen Verhältnisse, allgemeine Zustimmung zu erwerben für Gedanken, die da und dort längst vorhanden, doch in der öffentlichen Meinung noch nicht zur Herrschaft gelangt sind.

Der tiefe Zwiespalt, der durch unsere gesellschaftlichen Zustände geht, der Kampf, welcher heute Unternehmer und Arbeiter, besitzende und nicht besitzende Klassen trennt, die mögliche Gefahr einer uns zwar bis jetzt nur von ferne, aber doch deutlich genug drohenden sozialen Revolution, haben seit einer Reihe von Jahren auch in weitern Kreisen Zweifel erregt, ob die auf dem Markt des Tages unbedingt herrschenden volkswirtschaftlichen Doktrinen, die in dem volkswirtschaftlichen Kongreß ihren Ausdruck fanden, immer die Herrschaft behalten werden, ob mit Einführung der Gewerbefreiheit, mit der Beseitigung der ganzen veralteten mittelalterlichen Gewerbegesetzgebung in der Tat die vollkommenen wirtschaftlichen Zustände eintreten werden, welche die Heißsporne jener Richtung prophezeiten. […]

Nicht eine Nivellierung in sozialistischem Sinn ist unser Gesellschaftsideal; wir halten die Gesellschaft für die normalste und gesündeste; die eine Stufenleiter verschiedener Existenzen, aber mit leichtem Übergang von einer Sprosse zur andern darstellt; unsere heutige Gesellschaft aber droht mehr und mehr einer Leiter zu gleichen, die nach unten und oben rapide wächst, an der aber die mittleren Sprossen mehr und mehr ausbrechen, an der nur noch ganz oben und ganz unten ein Halt ist.

Unzufrieden mit unsern bestehenden sozialen Verhältnissen, erfüllt von der Notwendigkeit der Reform predigen wir doch keine Umkehr der Wissenschaft, keinen Umsturz aller bestehenden Verhältnisse, wir protestieren gegen alle sozialistischen Experimente. Wir wissen, daß die großen Fortschritte der Geschichte nur das Resultat Jahrhunderte langer Arbeit sind, wir wissen, daß stets das Bestehende dem Neuen einen fast unüberwindlichen zähen Widerstand entgegensetzt, weil eben das Bestehende in den Überzeugungen und Lebensgewohnheiten der Masse wurzelt. Wir erkennen nach allen Seiten das Bestehende, die bestehende volkswirtschaftliche Gesetzgebung, die bestehenden Formen der Produktion, die bestehenden Bildungs- und psychologischen Verhältnisse der verschiedenen gesellschaftlichen Klassen als die Basis der Reform, als den Ausgangspunkt unserer Tätigkeit an; – aber wir verzichten darum nicht auf die Reform, auf den Kampf für eine Besserung der Verhältnisse. Wir wollen keine Aufhebung der Gewerbefreiheit, keine Aufhebung des Lohnverhältnisses; aber wir wollen nicht einem doktrinären Prinzip zu Liebe, die grellsten Mißstände dulden und wachsen lassen; wir treten für eine maßvolle, aber mit fester Hand durchgeführte Fabrikgesetzgebung auf, wir verlangen, daß nicht ein sogenannter freier Arbeitsvertrag in Wahrheit zur Ausbeutung des Arbeiters führe, wir verlangen die vollste Freiheit für den Arbeiter bei Feststellung des Arbeitsvertrags mitzureden, selbst wenn er da Ansprüche erheben sollte, die scheinbar mit dem alten Zunftwesen eine gewisse Analogie haben. Wir verlangen, daß die Freiheit überall durch die Öffentlichkeit kontrolliert werde, und daß wo die Öffentlichkeit tatsächlich fehlt, der Staat untersuchend eintrete und ohne in die Unternehmungen sich zu mischen, das Resultat publiziere. Wir verlangen von diesem Standpunkt ein Fabrikinspektorat, ein Bank-, ein Versicherungskontrollamt, wir fordern von diesem Standpunkt aus hauptsächlich Enquêten in Bezug auf die soziale Frage. Wir verlangen nicht, daß der Staat den untern Klassen Geld zu verfehlten Experimenten gebe, aber wir verlangen, daß er ganz anders als bisher für ihre Erziehung und Bildung eintrete, wir verlangen, daß er sich darum kümmere, ob der Arbeiterstand unter Wohnungsverhältnissen, unter Arbeitsbedingungen lebt, die ihn notwendig noch tiefer herabdrücken.

Wir glauben, daß eine zu große Ungleichheit der Vermögens- und Einkommensverteilung, daß ein zu erbitterter Klassenkampf mit der Zeit auch alle freien politischen Institutionen vernichten muß, und uns wieder der Gefahr einer absolutistischen Regierung entgegenführt. Schon darum glauben wir, daß der Staat einer solchen Entwicklung nicht gleichgültig zusehen dürfe. Wir verlangen vom Staate, wie von der ganzen Gesellschaft und jedem Einzelnen, der an den Aufgaben der Zeit mit arbeiten will, daß sie von einem großen Ideale getragen seien. Und dieses Ideal darf und soll kein anderes sein, als das, einen immer größeren Teil unseres Volkes zur Teilnahme an allen höhern Gütern der Kultur, an Bildung und Wohlstand zu berufen, das soll und muß die große im besten Sinne des Wortes demokratische Aufgabe unserer Entwicklung sein, wie sie das große Ziel der Weltgeschichte überhaupt zu sein scheint. – Doch genug. Wir wollen ja nicht von den großen prinzipiellen Fragen heute sprechen, sondern einzelnen praktischen Problemen näher treten. Es schien nur zweckmäßig, ehe wir in die Debatte eintreten, wenigstens den prinzipiellen Standpunkt derer, welche hauptsächlich die Versammlung veranlaßt haben, loyal und offen darzulegen.

Auszüge zitiert nach: Verhandlungen der Eisenacher Versammlung zur Besprechung der sozialen Frage am 6. und 7. Oktober 1872, hrsg. v. ständigen Ausschuß, Leipzig 1873, S. 1-6.

Fabio Schwabe

Der Autor

Dieser Beitrag wurde am 05.07.2019 verfasst von Fabio Schwabe, Mettmann. Die aktuelle Version stammt vom 05.07.2019. Fabio Schwabe ist Gymnasiallehrer der Fachrichtung Geschichte und Gründer von Geschichte kompakt

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